Heimat finden

Morgenandacht
Heimat finden
13.12.2018 - 06:35
11.10.2018
Johannes Wolf
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Heute ist der 13. Dezember. Dieses Datum hat sich mir eingeprägt. In meiner Schulzeit, in der DDR, war das immer ein besonderer Tag: Der Pioniergeburtstag. Für mich hatte dieser als solcher keine große Bedeutung, obwohl auch ich Mitglied in der Pionierorganisation war. Es war vielmehr der Geburtstag meiner Großmutter. Oma hatte an diesem Tag Geburtstag. Wir lebten gemeinsam in einem Haus. Meine Eltern arbeiteten beide. Genauso wie mein Großvater. Wenn ich mittags nach der Schule nach Hause kam, war aber trotzdem immer jemand da. Meine Großmutter Paula.

Von ihr lernte ich viel. Sie ging nicht lange zur Schule. Erlernte keinen Beruf. Ihre Berufung wurde die Familie. Das war damals so. Und dann war es so, dass die Familie auseinandergerissen wurde. Krieg, Vertreibung und Flucht. Sie war plötzlich mit ihren vier Kindern allein in Elbing. Der Mann brachte seine Schwägerinnen in Sicherheit, weg von der nahenden Front. Die Brüder waren gefallen. Als er nach Ostpreußen zurückkam, war seine Paula mit den Kindern schon nicht mehr zu Hause. Auch sie mussten fliehen. Meine Großeltern wussten lange nichts voneinander. Ihre Geschichte ist eine Geschichte wie aus einem Film. Auf einem entlegenen Bahnhof trafen sie sich wieder. Unvermittelt standen sie sich plötzlich gegenüber… und zogen dann gemeinsam weiter.

 

Da konnte es beginnen, das neue Leben meiner Großeltern, gemeinsam an anderem Ort. Die Flucht hatte ein Ende. Und dann war da der erste Geburtstag in diesem bis dahin für sie unbekannten und fremden Ort. Am 13. Dezember 1945 war Oma Paulas erster Geburtstag nach der Flucht. Wie sie immer sagte, war damals das größte Geschenk für sie, dass ihr Mann und die Kinder mit ihr zusammen eine neue Heimat fanden. Oft hat sie von der Heimat gesprochen. Und immer hat sie damit den aktuellen Wohnsitz gemeint. Geschichten aus der „alten“ Heimat habe ich nie von ihr gehört.

 

Und dennoch war da etwas, was die alte und die neue Heimat für sie miteinander verbunden hat. Es waren die Lieder und Geschichten, die sie in ihrer Kirchgemeinde damals als Kind, im Konfirmandenunterricht und in den Gottesdiensten kennenlernte. Sie haben ihren Glauben und damit ihr Leben geprägt. Ganz viel hat sie mir davon mitgegeben und so konnte auch ich in ihrem Glauben, ihrer unzerstörbaren Heimat ein Zuhause finden. Sie schenkte es mir mit den Liedern, die sie mit uns Kindern sang – und mit den vielen Gebeten. Am Morgen. Zu jeder Mahlzeit ein Tischgebet. Und dann abends ein Nachtgebet zum Schlafengehen.

 

Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich als Jungpionier nicht nur die Pioniergebote in der Schule lernte, sondern auch die Gebote der Bibel. Die waren meiner Großmutter sehr wichtig. Und ich sehe noch ihren eindringlichen Blick, als sie mich anschaute, nachdem sie herausgefunden hatte, dass ich einem Mitschüler eine kleine Spielzeugfigur weggenommen hatte. „Du sollst nicht stehlen!“ meinte sie. Diese Szene werde ich nie vergessen.

 

Heute weiß kaum noch jemand, dass der 13. Dezember der Pioniergeburtstag war. Ich weiß das auch nur noch, weil der Tag selbst für mich als Kind immer ein wichtiger Tag gewesen ist: Der Geburtstag meiner Großmutter, die mir beibrachte, was Heimat und Glaube sind. Heimat ist kein Ort. Sie ist überall da, wo ich mich zu Hause fühlen darf. Und mein Glaube ist vielleicht nicht der einzig mögliche. Aber in ihm habe ich eine Heimat gefunden.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

11.10.2018
Johannes Wolf