Neben mir in der S-Bahn

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Maksym Kaharlytskyi

Neben mir in der S-Bahn
von Marie Marondel
07.03.2024 - 06:20
21.02.2024
Marie Marondel
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Sie sitzt neben mir in der S-Bahn. Ihre Haare zu einem Zopf gebunden, ihre Jacke ist so sauber, dass sie mich förmlich anleuchtet. Sie hat einen Wanderrucksack und eine große Tüte bei sich. Sie sitzt ganz ruhig und blickt aus dem Fenster.

Hinter mir höre ich jemanden über heißen Kakao mit Marshmallows reden. Wie sehr er den liebt und was er jetzt dafür geben würde, nach dieser langen kalten Nacht. Der Mann neben ihm stimmt ihm zu. Er tätschelt seinen Hund und kramt in seinem Beutel nach ein paar Leckerchen.

Nächster Halt. Ich steige aus. Mit mir verlässt auch die Frau mit der leuchtenden Jacke, dem Wanderrucksack und der großen Tüte die S-Bahn. Sie geht einige Schritte vor mir auf der Straße. Ich beobachte, wie sie stehen bleibt, ihre Taschen ablegt und an eine Mauer anlehnt. Dann zieht sie aus der großen Tüte eine Isomatte heraus. Sie breitet sie aus. Legt eine Wolldecke darüber, lässt sich nieder.

Ich gehe weiter, aber meine Gedanken bleiben bei ihr, wie sie den Tag verbringt und die Nacht, wie sie morgen wieder ihre Haare zu einem perfekten Zopf binden wird und in ihrer leuchtend sauberen Jacke nichts über ihr Schicksal preisgibt. Und ich denke an den jungen Mann, der sich nach einem heißen Kakao, nach ein bisschen Wärme sehnt. Und ich denke an den Mann neben ihm in der Bahn, der vielleicht sein letztes Geld und seine warme Decke für seinen Hund hergeben würde, weil der ihn nie allein lässt. Und ich denke an all die anderen Menschen, deren Geschichte ich nicht einmal erahnen kann.

Manche Teile dieser Erzählung sind fiktiv, aber nichts davon ist unrealistisch. In Berlin mit der Bahn fahren bedeutet, auf Menschen in unterschiedlichen Lebens- und Gefühlslagen zu treffen. Und wir sitzen alle in derselben Bahn. Umrunden die Stadt auf unseren Wegen und Irrwegen auf der Suche nach unserem Glück, nach Wärme und Sicherheit.

Ich kann nie wissen, welches Gepäck jemand mit sich trägt. Bei manchen sieht man es deutlicher als bei anderen. Aber ich kann versuchen jeden Menschen so zu behandeln, wie ich selbst behandelt werden möchte. Das ist für mich Nächstenliebe, eines der höchsten Gebote der Bibel: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (3. Mose 19,18)

Das gilt, ohne dass die oder der andere mir seine Geschichte erzählen muss. Meine Hilfe muss sich niemand durch lange Erklärungen verdienen. Ich kann zwar nicht die Welt retten, aber ich kann damit anfangen, andere als meine Nächsten zu erkennen.

Es gilt das gesprochene Wort.

21.02.2024
Marie Marondel