Taube

Wort zum Tage
Taube
20.06.2018 - 06:20
07.03.2018
Hannes Langbein
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„Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag zum andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück und hätte niemals mehr damit gerechnet, dass ihm überhaupt noch irgend etwas anderes Wesentliches würde widerfahren können als dereinst der Tod.“

 

So beginnt Patrick Süskinds Roman „Die Taube“. Er erzählt von einem Sicherheitsbeamten eines französischen Geldinstituts, dessen Leben durch die unerwartete Begegnung mit einer Taube vollkommen auf den Kopf gestellt wird. Jonathan Noel, bis zu jenem Tag ein vollendeter Gewohnheitsmensch, hatte seinen Tag begonnen wie er ihn immer begann: Zähneputzen, Kämmen, den Hut gerade rücken, den Weg in Richtung Bank. Nach einem langen, ereignislosen Tag würde er wieder zurück nach Hause kommen. Die Tage glichen einander wie die Mahlzeiten in seiner Pausenbox. Bis ihm eines schönen Morgens eine Taube auf seiner Türschwelle begegnete und alles veränderte.

 

Jedem anderen Menschen wäre dabei wohl nichts merkwürdig vorgekommen. Jeder andere hätte das Tier verscheucht und wäre seines Weges gegangen. Doch Jonathan Noel wusste plötzlich nicht mehr ein noch aus: Wie sollte er angesichts des merkwürdigen Tieres über die Schwelle treten? Wie sollte er seinen gewohnten Tagesrhythmus nach dieser empfindlichen Störung wieder aufnehmen? – Als er sich schließlich ein Herz fasste und das Tier überwand, war die Welt eine andere: Zum ersten Mal kam er zu spät zur Arbeit. Zum ersten Mal verbrachte er seine Mittagspause auf einer Parkbank liegend im angrenzenden Park – mit Rotwein und saftigen Birnen. Als er sich am Abend auf den Heimweg machte, zog er sich die Schuhe aus, um wie ein kleiner Junge barfuß durch die Pfützen zu patschen. Was für ein Leben! Was für ein wunderbares neues Leben!

 

Wir wissen nicht wie sein Leben weiterging. Patrick Süßkind erzählt uns nicht, wie unser Wachmann die nächsten Tage seines Lebens bestritt – ob er die alten Rhythmen wieder aufnahm oder einen neuen Rhythmus ausprobierte. Was wir aber wissen ist, dass ihm – und sei es für einen Moment – eine Taube ein neues Leben geschenkt hat – das Tier, das in der Kunstgeschichte für den Heiligen Geist steht, für den Geist des Lebens. „Der Geist weht wo er will“, heißt es im Johannesevangelium. Und der Apostel Paulus setzt hinzu: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ – Und sei es für einen kleinen, großen Moment.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.03.2018
Hannes Langbein